WIENER LEBENSART >>
Liebe geht durch den Magen und ohne Liebe sind wir nicht überlebensfähig. Sinnlicher Genuss spielt in Wien seit jeher eine große Rolle. Das katholische, barocke Element siegt stets vor dem asketischen Verzicht und der Vertröstung aufs Jenseits. Essen und Trinken reichten natürlich nicht, es gibt ja noch die Sprache, den Witz, die Kultur, die Musik.
Süsses und Saures
Die Wiener Lebensart schwankt zwischen Süß und Sauer, zwischen unbändigem Genussdrang und schwermütiger Todessehnsucht. Ein Glück, dass es viele Orte gibt, wo man beides ausleben kann! Am besten gleichzeitig! Vom Kaffeehaus braucht man nicht viel zu erzählen, im Gegensatz zu Facebook & Co. werden hier wirklich vertrauliche Dinge erzählt.
Der Heurige ist auch für viele Wiener eine Art Therapie, wird aber leider nicht von der Krankenkasse bezahlt…
Das Stammbeisl ist der Fluchtpunkt der Seele, und die sitzt bekanntlich im Magen. Und der Konsum einer Mehlspeise ist oft eine Art Friedensschluss mit sich selbst. Die Not, eine Burenwurst am Würstelstand verspeisen zu müssen, die ist erträglich, wenn man sich ihr freiwillig unterwirft, am besten abends nach dem Theater oder nach der Oper.
Die Wiener Lebensart hat insoferne etwas mit Kunst zu tun, als sie ihre Kraft aus dem Barocken schöpft. Sinnliche Attribute des Äußeren zählen in Wien sehr oft mehr als inhaltlich reiche Kost in asketischem Ambiente. Das höfische Spiel rund um den jährlichen Opernball zeigt die Dominanz des Förmlichen. Dabei sein ist wichtig, die Philosophie des Existenzialismus wurde nicht in Wien erfunden. Das Leben, die Welt ist eine Bühne und der Wiener liebt das Theater. Gesellschaftliche Konflikte und ihre Protagonisten erinnern denn auch oft frappant an Figuren des Dramatikers Johann Nepomuk Nestroy. Denken wir nur an den reichen Baumeister, der auf dem Opernball mit gemieteten Stars um Aufmerksamkeit heischt. „A so a Theater!“ heisst es dann in Wien. Und das klingt bewundernd und abfällig zugleich.
Die Barockzeit hat ihre Spuren hinterlassen. Von der Quadrille am Tanzparkett bis zum Schlagobershäubchen am Apfelstrudel, vom weinseligen Gesang in einer Heurigenlaube bis zum Tratsch im Wiener Kaffeehaus. Und man muss es sagen: Wien hat hier wirklich ein Lebensgefühl zu bieten. Und zwar nicht nur den Touristen auf den ausgetretenen Pfaden. Nein, auch die Wiener selbst können dieses Lebensgefühl genießen und wissen sehr genau, dass sie es woanders nicht finden.
Wienerisch ist auch das Raunzen über die Stadt. Obwohl dies immer seltener zu hören ist. In den ersten drei Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg war Wien grau und schwarz. Viele ältere, verbitterte Menschen machten aus ihrem Unwohlsein keinen Hehl und überaus lebenslustigen Jugendlichen wurde schon mal der GröFaZ an den Hals gewünscht. Inzwischen hat sich die Stadt vor allem von den materiellen Folgen des Krieges erholt und seit den 1980er Jahren ging es mit dem Lebensgefühl in der Stadt bergauf. Die geistigen und seelischen Folgen des Nationalsozialismus und des Krieges werden trotzdem weiterhin zu spüren sein, auch wenn man damit nichts zu tun haben will. Mehr darüber gibt es im Thema „Worst of Vienna“.